Archiv der Kategorie: Blog

Eindrücke, Ideen & Kommentare

Boris Johnson – der Windbeutel ist geplatzt

Eigentlich hätte der gesunde Menschenverstand BoJo sagen können, dass das Außerkraftsetzen des Parlaments in einer Phase, die nun wirklich über die Geschicke des Landes entscheidet, mit Demokratie wenig zu tun hat. Er hat es jetzt schriftlich von mutigen Richterinnen und Richtern mit nicht zu überbietender Deutlichkeit gesagt bekommen: Deine Beurlaubung des Parlaments über 5 Wochen war von allem Anfang an unrechtmäßig und nichtig.

Die Schreier der Pro-Brexit-Fraktion werden jetzt wieder den Volkswillen auf quasi übernatürliche Weise für sich beanspruchen. Wahrscheinlich wird es BoJo aber kein 2. Mal riskieren, wieder per Gericht über seine Pflichten belehrt zu werden. Seinen Plan, den Parlamentsbeschluss gegen einen ungeregelten Brexit zu ignorieren, wird er vermutlich begraben.

Bleibt dem UK zu wünschen, dass bald jemand – nach dem 31.10. – als PM gewählt wird, die oder der das zerrissene Land wieder zusammenführt und den Pragmatismus wieder zur Leitlinie macht, der mal ein Markenzeichen des UK war. Die Äußerungen von BoJo aus New York lassen aber ahnen, dass er zumindest nichts kapiert hat.

Surfin’ the Oberallgäu #5 — Hochgrat – Scheidwang-Alm – Girenkopf/Heidenkopf – Balderschwang

Von der Bergstation der Hochgratbahn aus dem gut ausgeschilderten Weg zur Scheidwang-Alm folgen. Hinter der Scheidwang-Alm, in die man auch einkehren kann, den Hang über eine Weide in südlicher Richtung besteigen. Der Weg führt im Talkessel auf der linken Seite bergan, bis man den Kammweg erreicht (in der Karte als Oberallgäuer Rundwanderweg bezeichnet). Ich habe Heidenkopf und Girenkopf ausgelassen und bin über eine Weide (der Weg war nach Regenfällen zum Teil lehmig und glitschig) auf der gegenüberliegenden Seite Richtung Balderschwang abgestiegen. Eine kleine Gruppe von Pferden auf dem Weg habe ich möglichst großräumig umgangen. (Was weiß man schon über Pferde?). In Balderschwang im Tal angekommen, kann man den Bus Richtung Deutschland nehmen (nur einen oder zwei pro Tag) oder macht es wie ich per Anhalter. Nach kurzer Zeit war ich zurück in Weissach.

Wanderdauer: ca. 6 Stunden

DISCLAIMER: Beim Anstieg zwischen Girenkopf und Heidenkopf unbedingt dem ausgetrampelten Pfad auf der linken Seite des Talkessels folgen. Die Via Recta, die ich gewählt habe, hat mich ganz schön in Gefahr gebracht.

Surfin’ the Oberallgäu #4 — Weissach-Tal / Gündleskopf / Hochgrat

Mit dem Bus bis zur Talstation Hochgratbahn fahren, von dort aus ins Weißach-Tal flussauf gehen. An einer Hängebrücke – in meiner Karte als Hohe Brücke verzeichnet – die Weissach queren. Der Weg führt an einer Wanderhütte vorbei und steigt in süd-östlicher Richtung allmählich an, verbleibt dann aber für einige Zeit auf annähernd gleicher Höhe. Am Rindalper Tobel nimmt der Weg eine südliche Richtung und verläuft für eine Weile auf einem Wirtschaftsweg und passiert zwei Almen (Rind-Alm und Obere Rind-Alm). Bei der ersten gibt es die Möglichkeit einzukehren. Der Weg steigt nun steiler an, passiert eine aufgegebene Alm, von der nur die Grundmauern zu sehen sind und erreicht zwischen Gündleskopf und Rindalphorn den Kammweg. (Im Vergleich zur Brunnenauscharte empfand ich den Aufstieg als weniger anstrengend.)

Über diesen Kammweg kann man über den Gleichenwanger Kopf und den Hochgrat leicht die Bergstation der Hochgratbahn erreichen. An einem heißen Tag entschied ich mich für den um den Hochgrat herumführenden Panoramaweg, was ich sehr bereute: Der Weg bedeutete, nicht weniger Höhenmeter zu bewältigen und dauert mindestens ebenso lange. Schon beim Aufstieg über den Rindalper Tobel hat man gute Aussicht auf die gegenüberliegende Bergkette mit Vorderer Prodel und Denneberg. Erst recht auf dem Kammweg weite Sichten in die vorarlberger und schweizer Alpen sowie zum Schluss auf den Bodensee.

Wanderdauer: 6,5 Stunden

Dancer – Dokufiction über Rudolf Nurejew

Wer den Film Billy Elliot gesehen hat, erinnert vielleicht die Schlussszene, die mich auch heute noch rührt: Billys Vater und Bruder Tony sitzen im Opernhaus, Billy hat noch vor seinem Auftritt die Nachricht erhalten, dass Vater und Bruder zuschauen. Und dann setzt Billy, seinen eigenen Auftritt beginnend, zum Sprung an. Dank Slow Motion dauert dieser eine ganze Weile, bevor er zum Schlussbild einfriert. Das ist nicht nur großes Kino, sondern machte mir zumindest deutlich, weshalb Balett auch heute noch große Begeisterung auslöst. Für mich war es die Kombination aus athletischer Kraft, großer Form, die nur mit fast endlosem Üben zu Stande kommt, und begeisternder Musik.

Zwei Generationen vor dem Film-Billy hat Rudolf Nurejew die Balletwelt betört. Diese Leitfigur des neuzeitlichen Baletts war tatarisch-russischer Herkunft und ist der Mittelpunkt des Romans Dancer von Collum McCann. Der irisch-amerikanische Schriftsteller hat sich mit diesem 2003 veröffentlichten Roman in die erste Reihe englisch-sprachiger Romanautoren der letzten Jahrzehnte geschrieben. Faszinierend ist die Vermischung von biographischem Material von und über Nurejew, das McCann mit eigenen Figuren und Begebenheiten um diesen Ausnahmetänzer herum anreichert. Gerade durch die Vielstimmigkeit des Romans, immer wieder andere Ich-Erzähler bringen ihre subjektive Perspektive ein, entsteht ein faszinierendes Portrait. In wieweit damit die reale Figur Nurejew abgebildet wurde, steht dahin, ist aber nur von minderer Bedeutung.

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Tag des offenen Denkmals: Jüdischer Friedhof in Deutz

Nach und trotz der Shoah zeigen jüdische Friedhöfe, wie lange schon Juden in Deutschland lebten und leben. Köln besitzt auf seinem heutigen Stadtgebiet sieben jüdische Friedhöfe. Gestern war es im Rahmen des Tags des offenen Denkmals möglich, den großen Deutzer Friedhof besuchen zu können. Davon habe ich gerne Gebrauch gemacht. Esther Bugaeva von der Synagogengemeinde Köln gab eine kundige und charmante Führung über diesen Friedhof, der normaler Weise nicht zugänglich ist. Seinen Ursprung hatte der Friedhof im ausgehenden 17. Jahrhundert, als der erste Kölner Judenfriedhof in Raderthal („Zum toten Jüt”) geschlossen wurde und jüdische Bürger sich außerhalb von Köln (Deutz war noch eigenständig!) eine neue Begräbnisstätte suchen mussten. Die ältesten der mehr als 5.000 Gräber fallen daher in die Zeit von 1695. Trotz des beachtlichen Alters lassen sich auch heute noch manche Familiensymbole entziffern: Grabstätten von Angehörigen der Priester-Familie Cohen sind an den gespreizten segnenden Hände, die der Famlie Levi an einem Krug-Symbol zu erkennen.

Im übrigen spiegelt dieser Friedhof die wechselvolle Geschichte der jüdischen Gemeinden im Rheinland: Für die erste Zeit überwiegen jüdische Grabinschriften. Da anfangs Handwerke den Juden verboten waren, haben die nicht-jüdischen Steinmetze manches hebräische Schriftzeichen verhunzt. Nach Napoleon beginnt die Zeit der Emanzipation der Juden im Rheinland: Grabmäler zeigen jüdische und deutsche Inschriften – besonders prachtvoll als Beispiel dieser Zeit ist das Grabmal der Theresa Oppenheim. Bis zur Shoah nimmt der Anteil der deutschen Inschriften im Vergleich zu den jüdischen Schriftzeichen weiter zu.

Kulturgeschichtlich besonders interessant sind – ebenfalls in Deutz zu finden – die Grabmäler von Moses Hess, einflussreich für Karl Marx, aber auch den späteren Zionismus, Isaak Offenbach (Vater von Jacques Offenbach) und ein besonderer Bereich für Angehörige der Familie Oppenheim, die Köln besonders zugetan war.

Ein Besuch des Friedhofs lohnt in jedem Fall (bin eigentlich eher kein Friedhofsgänger). Besuchstermine außerhalb spezieller Anlässe finden sich auf der Seite der Synagogengemeinde Köln. Männer sollten an eine Kopfbedeckung denken.

Jüdische Friedhöfe auf Kölner Stadtgebiet

JF Raderthal – „Zum toten Jüt” – in der Nazi-Zeit aufgehoben

JF Deutz – Judenkirchhofsweg / Köln-Deutz // zwischen 1698 und 1941 genutzt

JF Köln-Mülheim – am Springborn – Nähe Neurather Ring // zwischen 1774 und 1942 genutzt

JF Köln-Ehrenfeld / Teil des Melatenfriedhofs // zwischen 1899 und 1918 genutzt

JF Köln-Deckstein / Adass Jeschurun // zwischen 1910 und 1945 (?) genutzt

JF Köln-Böcklemünd / Venloer Straße // ab 1918, noch heute genutzt

JF Köln-Zündorf // zwischen 1923 und 1942 genutzt

Designfehler wie für ein Lehrbuch: Boeing 737 MAX

Flugreisen sind in den letzten Jahren so günstig geworden, dass daraus ein weiteres ernsthaftes ökologisches Problem entstanden ist. Dass dies passieren konnte, hat auch mit deutlich sparsameren Triebwerken zu tun. Diese erzielen einen stark höheren Wirkungsgrad, indem der Schub im immer kleineren Anteil vom verbrannten Kerosin erzeugt wird, sondern dieser durch das Aufheizen der Luft in einem zweiten System erzeugt wird (siehe unten – hell gefärbt). Dieser durch den sogenannten Nebenstrom erzeugte Schub übertrifft bis zum 10fachen den primären. Eine geniale Idee – der konstruktive Nachteil dieser modernen Triebwerke: Sie fallen – was Größe und Gewicht angeht – deutlich massiver aus.

 

 

 

 

 

Bild 1

Wettbewerbsdruck und falsche Entscheidungen

Das ist der Ausgangspunkt zum Verständnis der gravierenden Designfehler, die bei der Konstruktion der Boeing 737 MAX gemacht wurden: Der Platzhirsch Boeing versuchte, als Airbus im Mittelstreckenbereich mit seinem Flugzeug A320 Neo einen Trumpf gelandet hatte, schnell mit einem konkurrenzfähigen Produkt nachzuziehen. Die Boeing 737, über 10.000 Mal bereits gebaut, sollte ein zweites Mal modernisiert werden und zwar mit Hilfe des neuen sparsameren Triebwerks LEAP-1B eines amerikanisch-französischen Gemeinschaftsunternehmens. Zwei Pferdefüsse waren mit dieser Wahl verbunden.

Konstruktive Kompromisse mit angeflanschter Fehlerkorrektur

Die Boeing 737 als Urmutter des neuen Flugzeuges besaß im Vergleich zum Airbus 320 Neo ein niedrigeres Fahrwerk. Deswegen konnte auch nur die kleinere Variante des LEAP-Triebwerkes mit einem geringeren Durchmesser verbaut werden. Zudem sollten die Änderungen des neuen Flugzeugtyps so moderat ausfallen, dass das Genehmigungsverfahren viel vom Vorgängertyp übernehmen konnte. Das neue LEAP-1B-Triebwerk war aber in jedem Fall so wuchtig und groß (ø 3,15 m), dass es nicht unter dem Flügel wie die alten Triebswerke angebracht werden konnte. (Die Gegenüberstellung unten zeigt deutlich die ansteigende Größe und die veränderte Aufhängung des Triebwerks am Flügel: ein folgenreicher Eingriff in die gesamte Statik des Flugzeugs.)

Drei Triebwerke verschiedener 737 Ausführungen im Vergleich

Bild 2

 

 

 

 

Damit war ein schwerwiegender Nachteil in Kauf genommen worden, der nachträglich nur unzureichend durch ein eher angeflanschtes Hilfesystem ausgeglichen werden sollte: Ein gravierendes Problem in der Luftfahrt ist es, einen Strömungsabriss in allen Flugsituationen zu verhindern. Ein solcher tritt ein, wenn ein Flugzeug zu rasch seinen Anstiegswinkel verändert: Die Auftriebskräfte am Flügel fallen dann weg und ein Flugzeug wird nur noch schwer steuerbar und kann leicht abstürzen. Dies ist bei zwei Abstürzen der Boeing 737 MAX vermutlich mit genau dieser Fehlerursache in den letzten 12 Monaten passiert.

Um die durch die veränderte Statik konstruktionsbedingte vermehrte Neigung der Boeing 737 MAX zu einem solchen Strömungsabriss zu vermindern, wurde ein eigenes automatisches Verfahren implementiert, das MCAS (Maneuvering Characteristics Augmentation System). Dieses System ist dazu gedacht, zu steile Anstellwinkel des Flugzeugs dadurch zu unterbinden, dass diese potentiell gefährlichen Flugbewegungen durch entsprechende automatisch eingeleitete – ohne Zutun des Piloten – Steuerbewegungen der Schwanzflügel verhindert werden. Das Flugzeug senkt daraufhin die Nase ab. Dabei gab es jedoch verschiedene Probleme:

  • Diese automatisch eingeleitete Steuerung griff nur auf die Werte eines einzigen Sensors zurück. Der Rückgriff auf die Werte eines zweiten redundanten Sensors – der Sensorfehler hätte ausschließen können – war nur gegen einen kostenpflichtigen Aufpreis erhältlich.
  • Das Ausmaß des Gegensteuerns wurde um das Vierfache gesteigert im Vergleich zu dem, was ursprüngliche Sicherheitsdokumente bei Boeing aussagten (2,5° zu 0,6°). Damit erklären sich auch die einer Jojo-Bewegung gleichenden Flugbewegungen des Flugs der Lion Air vom 29.10.2018, der mit dem Absturz und dem Tod aller 189 Menschen an Bord endete. Die Piloten hatten den Kampf gegen das automatische Absenken der Nase des Flugzeugs nach 26 Eingriffen der Automatik verloren.
  • Überdies wurden die möglichen Eingriffe des MCAS-Systems auf Veranlassung der FAA erst nach dem 1. Absturz den Piloten gegenüber deutlicher kommuniziert.

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Mehr Gälisches aus Irland & Schottland

Viel Spaß mit meinen neuen Funden.

Boris Johnson – der Bock wird Gärtner

Das Erwartbare ist eingetreten: Mit 2/3 der aufgerufenen Mitglieder der Conservative Party ist Johnson zum neuen Premierminister des Vereinigten Königreichs geworden. Zum Mitschreiben: Die 92.153 Wähler der Konservativen, die Johnson in einer Briefwahl ihre Stimme gegeben haben, entsprechen etwa 1,47 % der Gesamtbevölkerung von 60.800.000 Bewohnern (Zensus 2011). In einer Situation, wo die Regierungen Weichenstellungen für Jahrzehnte vornimmt, ist das schlichtweg absurd. Das Land, das mit der Glorious Revolution von 1688 schon erste Schritte Richtung Volksbeteiligung und Einschränkung der Königsmacht beschritt, entpuppt sich dieses Mal in seiner eigenen Tradition hoffnungslos verfangen. Wie soll ein „Clown“ – auf diesen Begriff konnten sich viele Beobachter einigen – den schwierigen Austrittsprozess aus der EU gedeihlich für beide Seiten moderieren? Sachkenntnis ist nicht Boris’ Ding (siehe seine Bemerkungen zum Artikel 24, Paragraf 5 b des GATT-Abkommens, als er sich von einem BBC-Reporter sagen lassen musste, was dessen Inhalt sei) und nur den Hanswurst und unkonventionellen Haudrauf zu machen, wird die Probleme nicht lösen.

Man kann nur hoffen, dass das Parlament, das schon mal Tagungstermine Mitte Oktober sicher gestellt hat, ihn an Schnellschüssen hindert. Auch die Wirtschaftverbände, denen Johnson ein „fuck economy“ zurief, werden hoffentlich an seiner Bändigung mitwirken.

Lenz – vom Wert der Pausen

Peter PankninEinen 30seitigen Text, bekannt als Büchners Lenz-Fragment, ohne Netz und doppelten Boden auf die Bühne zu bringen, verlangt nicht nur dem Publikum einiges an Konzentration ab. Er ist erst recht für den Aufführenden Schwerstarbeit – die sich aber nicht so anfühlen darf.

Christian Wirmer hat gestern an einem besonderen Ort, dem Kölner Baptisterium, vor ungefähr 40 Zuschauerinnen und Zuschauern diesen Parforceritt gewagt und viel verdienten Applaus geernet. Der Hintergrund dieses Stückes ist schnell erzählt: Der namengebende Sturm und Drang-Dichter J. M. R. Lenz kommt zu Beginn des Jahres 1778 zum Elsässer Pfarrer Oberlin und findet bei ihm in einer existenziellen Krise Unterschlupf. Hinter ihm liegt eine nicht erwiderte Liebschaft zu Friederike Brion – auch Goethe hatte um sie geworben – und Schwärmerei für die Goethe-Schwester Cornelia Schlosser. Auch der durch eine Eseley verursachte Rauswurf aus Weimar durch eben diesen Goethe, ihm war Lenz dorthin gefolgt, muss Lenz enorm gekränkt und im Mark getroffen haben. (mehr dazu unten)

Büchner, selbst eine tragische Figur der deutschen Literatur, hat aus einem von Oberlin verfassten Bericht und Bemerkungen in Goethes Autobiographie Dichtung und Wahrheit einen enorm dichten Text verfasst. Dieser beschreibt immer wieder die Empfindungen, die der psychotische Lenz beim Wandern im Gebirg’ erlebt, in eindrucksvollen und beklemmenden Bildern.

Am Himmel zogen graue Wolken, aber Alles so dicht, und dann dampfte der Nebel herauf und strich schwer und feucht durch das Gesträuch, so träg, so plump. Er ging gleichgültig weiter, es lag ihm nicht’s am Weg, bald auf- bald abwärts. Müdigkeit spürte er keine, nur war es ihm manchmal unangenehm, daß er nicht auf dem Kopf gehn konnte.

Auch die Versuche, an den Alltag der Menschen um Oberlin herum Anschluss zu finden, sind von Büchner anrührend gestaltet. Sie gipfeln im Versuch von Lenz, ein kleines Mädchen in der Nachbarschaft vom Tode zu erwecken. Ein Unternehmen, das scheitern muss, und damit neue Verzweiflung erzeugt. Diese Unternehmung zeigt aber womöglich auch den gewagten Genie-Anspruch der Sturm und Drang-Dichter, der an der Wirklichkeit zerbrechen musste.

Wirmer gelang es gestern, diesen Text mit spärlich gesetzten Dramatisierungen und diesen klug gliedernden Pausen so zu vergegenwärtigen, dass alle bis zum Ende durchhielten. Dem Sog dieser Aufführung konnte sich offenbar niemand entziehen. Lang anhaltender Beifall und eine kurze Gelegenheit, das Erlebte zur Sprache zu bringen, rundeten den Abend ab. Für mich das beste an Theaterstücken, was ich in den letzten Jahren gesehen habe. Hut ab vor Christian Wirmer…

Dank auch an die Veranstalter Katholisches Bildungswerk, Melanchthon-Akademie und Domhütte, die mit Veranstaltungen im Baptisterium diesen besonderen Ort in den Köpfen der Kölnerinnen und Kölner verankern wollen.

J.M.R. Lenz – wenn Freiheitsideale und gesellschaftliche Wirklichkeit unvereinbar sind

„Wer über gewisse Dinge den Verstand nicht verliert, der hat keinen zu verlieren.“ (Gotthold Ephraim Lessing) – Mit diesem Satz aus der Emilia Galotti lässt sich treffend der überindividuelle Anteil an der Psychose von J. M. R. Lenz beschreiben. Gegen den Widerstand des Vaters hatte er 1771 sein Theologiestudium in Königsberg aufgegeben und war einem Brüderpaar von Kleist nach Straßburg gefolgt. Die Abhängigkeit eines Hofmeisters, als der Lenz den beiden gefolgt war, kann man sich kaum groß genug vorstellen. (Sie hat ihren Niederschlag übrigens auch in seinem gleichnamigen Theaterstück gefunden.) In Straßburg lernt Lenz Goethe kennen, der Fixstern, Nebenbuhler und Gegner für Lenz wird. Zunächst überwiegt aber noch die Harmonie: Im Sesenheimer Liederbuch, der von beiden geliebten Friederike Brion gewidmet, finden sich Gedichte beider und Literaturwissenschaftler späterer Generationen hatten Schwierigkeiten, wem welches Gedicht zuzuordnen ist. Goethe geht dann den pragmatischen Weg nach Weimar, wo er als Geheimer Rat und Schriftsteller reüssiert. Lenz, von diesem Modell angezogen, versucht sich auf dem gleichen Weg. Goethe lädt ihn im März 1776 nach Weimar ein, sorgt aber im Dezember des gleichen Jahres für die Ausweisung des früheren Freundes. Lenz hatte vermutlich ein Pasquille, ein Schmähgedicht, in Umlauf gebracht, das die noch ungesicherte Stellung Goethes am Hof bedrohte. Es folgen für Lenz Monate der Unsicherheit und manifester Krankheits- und Angstzustände in Deutschland, in der Schweiz und schließlich bei Oberlin im Elsaß. Der prekäre Aufenthalt in Deutschland endet 1779, als ihn ein Bruder abholt und ins ungeliebte Heimatland Lettland zurückbringt. Versuche, dort, in St. Petersburg oder in Moskau nicht nur beruflich neuen Boden unter die Füße zu bekommen, scheitern. Im Juni 1792 wird Lenz tot auf einer Moskauer Straße aufgefunden. Er wird zur tragischen Leitfigur einer Sturm und Drang-Bewegung, die sich das individuelle Fortkommen und die eigene Entfaltung auf die Fahnen geschrieben hatte. Sie scheiterte aber im Angesicht der festgefügten autoritären und einschränkenden Bedingungen der europäischen Gesellschaft des ausgehenden 18. Jahrhunderts.

Mehr zum Thema: Lenz’ Krankheit – eine Seminararbeit von mir