Archiv der Kategorie: Politik

Nawalny, North Stream 2 & NRW-Wahlen

Es ist beglückend, dass der russische Oppositionspolitiker Nawalny gestern kontrolliert aus dem ärztlich eingeleiteten Koma zurückgeholt werden konnte und ansprechbar war. Gott sei Dank. Man muss aber jetzt weiterhin und vielleicht sogar mehr um Navalny besorgt sein: Der Arm russischer Mordanschläge endet nicht an den russischen Grenzen, wie man seit S. Changoschwili (2019) und Sergej Skripal (2018) weiß. Im Fall von Skripal wurde ebenfalls wie bei Nawalny das Nervengift Nowitschok eingesetzt.

Es ist nun der Zeitpunkt gekommen, sich nicht weiter von Russland vorführen zu lassen. Ein spürbares Zeichen für Russland wäre es auf den Weiterbau von North Stream 2 zu verzichten. Wenn dies über die europäische Schiene veranlasst würde, könnte das auch die Schadensersatzansprüche beteiligter Firmen geringer halten.

Eine wenig sympathische Rolle spielt die Partei “Die Linke” in der innenpolitischen Beurteilung dieses Falles. Am Sonntag noch hat die Linken-Politikerin Sevim Da?delen bei Anne Will sich in vornehmer Zurückhaltung geübt. Wahrscheinlich hätte sie sich auch auf Ahnungslosigkeit berufen, wenn sie unmittelbar Zeugin des Giftanschlags geworden wäre. Übrigens, Sevim Da?delen steht nicht allein mit dieser ausgesprochen nachsichtigen Haltung gegenüber Russland innerhalb der “Linken” gegenüber Verbrechen, die man Russland zuschreiben muss: Klaus Ernst, Dietmar Bartsch und Klaus Gysi tuten in das gleiche Horn.

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Hand-, fuß- und kopflos in Berlin

Nun gut, liebe Knall- und Querköppe, Sonderlinge, Verschrobene, Aluhüte und anderweitig Verpeilte, ihr habt am 29.8. am Gitter des Reichstags gekratzt. Das wird sicher nicht noch einmal passieren, da die Mehrheit hier dieses umkämpfte Symbol unserer Demokratie nicht mit euren Schreckgestalten verbunden sehen möchte. Vielleicht doch ein Faktencheck zu einigen eurer Behauptungen und Ideen gefällig? Wenn so etwas überhaupt noch tangiert…

• Da hat Tamara K. aus Roetgen ins Megaphon getrötet, Trump sei gerade nach Berlin gekommen, um nach dem Rechten zu sehen. Dies wurde an der Höhe der geflaggten US-Fahnen und der Beleuchtung der US-Botschaft abgelesen. Sagt mal, geht’s noch?? Selbst diese Oberpfeife hat im Moment Wichtigeres zu tun und macht in den USA fleißig Wahlkampf für seine hoffentlich nicht zustande kommende Wiederwahl. Wer aber Rationalität durch Spökenkiekerei der plattesten Sorte ersetzt, dem ist jeder Anlass für die eigene und fremde Hysterie recht.

• Stichwort “verfassungsgebende Versammlung”. Nehmen wir mal wohlwollend die Zahl 58.000 Teilnehmerinnen und Teilnehmer für eure Demo in Berlin an. Bei der letzten Bundestagswahl wurden rund 61,69 Millionen Bürgerinnen und Bürger zur Wahl gerufen. Teilt man diese Zahl durch die Teilnehmerzahl von Samstag, kommt ein Bruchteil von 1/1063,62068 heraus. Mit anderen Worten: Die Anzahl der Teilnehmer an der Gesamtzahl der Wahlberechtigten liegt im Bereich von etwas mehr als einem Promille (1/1000). Das als “verfassungsgebende Versammlung” zu verkaufen hat nicht nur ein Geschmäckle von Landfriedensbruch, sondern hier wird versucht, viel Hund mit ganz wenig Schwanz wackeln zu lassen. Das wird nicht hinhauen, Leute!

• Gandhi und Regenbogenfahnen: Vermutlich die, die nicht ganz vorvorgestrig erscheinen wollten, haben Gandhi-Poster und Regenbogenfahnen mitgebracht. Ehrenwerter Versuch! Gandhi war aber ein politischer Kämpfer, der schon ein bisschen anders gestrickt war als das, wofür eure Demo steht. Vielleicht guckt ihr euch mal – als erste Annäherung – den Attenborough-Film über Gandhi an. Wie langfristig und mit wieviel Bereitschaft für persönliche Konsequenzen waren seine Kampagnen angelegt! Es ging ihm nie darum, seine Gegner vordergründig schlecht aussehen zu lassen. Vielmehr fühlte er sich dem Prinzip von Sadagraha (ein Kunstwort aus “Wahrheit” (Sat) und “Festigkeit” (Agraha), das deutlich mehr umfasst als Gewaltlosigkeit) verpflichtet. Wieviel an “Wahrheit” ist denn in den Verlautbarungen vom Samstag enthalten? Kommende Schülergenerationen werden mal im Deutsch-Unterricht lernen, diese “Verlautbarungen” Stück für Stück zu zerlegen und auf ihren hysterischen, nicht historischen, Kern zurückzuführen. (Überhaupt, am Samstag ist reichlich Foto- und Filmmaterial erzeugt worden. Irgendwann mal beim Kaffeetisch werdet ihr von euren Enkeln und Enkelinnen – vermutlich ungläubig und verlegen – angesprochen werden, was ihr euch mit eurer Teilnahme am 29.8. gedacht habt.)

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Narziss und Goldmund – Was Trump nie lernen wird

Am 3.11.2020 wird in den USA gewählt. Auch wenn Trump zur Zeit einiger Wind ins Gesicht bläst, bin ich noch nicht überzeugt, dass wir diese Oberpfeife in diesem Jahr los werden. Hatten die Amerikaner in Irland vor vier Jahren nicht auch erzählt, der wird es nie werden? Und kann er nicht darauf rechnen, dass seine Parteigänger alles Legale und Illegale daran setzen werden, ihn zu behalten? Selbst, wenn dies zu einem Bürgerkrieg führen würde…

Was wir in den letzten 4 Jahren vermisst haben, lässt sich der Rede Barack Obamas anlässlich einer etwas anderen Democratic Convention entnehmen: Ein empathie-begabter Mensch, der ein klares Bewusstsein davon hat, dass ein Präsident nach der Wahl für alle Bürgerinnen und Bürger zuständig ist. Ein Präsident, der lauter gerade, bedeutungsvolle Sätze hintereinander kriegt, dessen Körpersprache das gesprochene Wort wirkungsvoll und authentisch unterstützt.

Treffend bemerkte ein Kommentator auf youtube über den narzisstischen Schmollmund hingegen: Donald Trump hasn’t grown since age 10.

Amerika, du musst es dieses Mal besser hin kriegen. God bless you.

Krieg gehört geächtet, Kriegskleidung auch

Dass nicht wenige migrantische Männer und Jugendliche mit dieser Kleidung herumlaufen, eher unangenehm. Dass aber die Kriegskleidung inzwischen – geschlechtsübergreifend – auch in der Mitte der Gesellschaft angekommen ist, gibt zu denken. Eine google-Suche nach diesen 4 Stichwörtern camouflage kleidung damen herren lieferte immerhin eine Trefferzahl von Ungefähr 4.790.000 Ergebnissen.

Ist es der Kick, etwas Unangepasstes zu tun, der Menschen dermaßen daneben greifen lässt? Will man / frau sich mit Vorsatz in die Nähe von Preppern, Paintball-Aktivisten, vielleicht sogar Wehrsportvereinigungen begeben – ich hoffe nicht.

Zur Erinnerung: Krieg tötet, jeden Tag, körperlich und seelisch. Es ist noch nicht einmal damit ausgestanden, dass eine Person Kriegsfolgen für sich individuell erleidet. Oder auch stirbt! Häufig werden Kriegsfolgen sogar transgenerationell weitergegeben.

Vielleicht bin ich nicht das beste Beispiel, aber bedrückt hat es mich schon: In den 60er Jahren hatte ich mein eigenes Zimmer neben dem Schlafzimmer meiner Eltern. Wie oft habe ich meinen Vater – der rettende Granatsplitter kam gerade rechtzeitig vor Stalingrad – Mama, Mama brüllen gehört, wenn ihn mal wieder Angstträume befielen.

Auch mein Schwiegervater war, obwohl dem Leben zugewandt, zeitlebends davon geprägt, dass er als 14jähriger Flak-Helfer nach den verheerenden Peter-und-Paul-Angriffen 1943 in Köln Leichen im Griechenmarktviertel in Köln beseitigen musste. Keller, in denen zu viele Leichen lagen, wurden mit einer Schüppe Kalk bedacht und zugemauert. Dieses Viertel war für ihn No-Go-Area für den Rest seiner Jahre.

Also Leute, denkt noch mal nach: Krieg ist nichts, dass man spielerisch zum Alltagsgegenstand machen sollte oder mit dessen Kleidung sich kokettieren ließe – Tarnkleidung ist Soldatensache. Punkt. Im übrigen sollte gelten: Schwerter zu Pflugscharen (Micha 4,3), Camouflage-Kleidung zu Putzlappen

Mr. B. Scheuer?

Verglichen damit, dass diese Zeiten wahrlich besondere Anforderungen stellen, sind die Leistungen der aktuellen Bundesregierung insgesamt ganz in Ordnung. Es gibt allerdings personenbezogen Ausnahmen: An erster Stelle fällt mir hier der Name des Verkehrsministers Andreas Scheuer ein.
Die Liste seiner Fehlleistungen ist schwerwiegend:

• PKW-Maut: Nur zu gut nachvollziehbar ist, dass Deutschland in seiner Lage in Zentraleuropa in- und ausländische private Autobahnnutzer genauso zur Kasse bittet, wie das in der Schweiz, Österreich und Frankreich schon lange der Fall ist. Sein dafür vorgesehene Gesetzesentwurf war aber so schludrig und selektiv erarbeitet, dass er erwartbar vor dem Europäischen Gerichtshof scheiterte. Das ist das grob fahrlässig. Kosten für den Steuerzahler: 70 Millionen Euro und Schadensersatzansprüche beteiligter Firmen in Höhe von 500 Millionen Euro.
• Auch bei der Diskussion um eine generelle Geschwindigkeitsbegrenzung auf deutschen Autobahnen zeigte sich der Minister als Vertreter der Bleifüße: Die positiven Auswirkungen einer solchen Geschwindigkeitsbegrenzung spürt jeder, der von Deutschland aus die Grenzen in Nachbarländer überschreitet: Es wird weniger hektisch und sicherer gefahren. Die Konsequenz: weniger Verkehrstote, weniger Kohlendioxid. Das sollte einem Minister, der für eine “C”-Partei im Bundestag sitzt, gut anstehen. Auch hier hat sich Herr Scheuer strikt geweigert und erzählt etwas von „intelligenten” Lösungen.
• Auch bei dem im April 2020 verabschiedeten neuen Bußgeldkatalog hat das Ministerium von A. Scheuer offenbar so nachlässig gearbeitet, dass das vollständige Inkrafttreten der Änderungen verhindert wurde. Die Maßnahmen sollten u.a. die Strafen für Geschwindigkeitsüberschreitungen verschärfen. Manche Menschen haben hier sogar Vorsatz vermutet.

Sehr geehrter Herr Scheuer, ich finde das reicht. Treten Sie zurück und machen Sie mal was anderes. Es wäre doch unvorteilhaft, wenn das Wortspiel aus dem Titel in „bescheuert” umzusetzen wäre. Die Wähler danken es Personen, die beizeiten zurücktreten: siehe Cem Özdemir, Bonusmeilenaffäre…

Karikaturen zu den Leistungen des Ministers finden sich reichlich:

„Vorschlag zur Güte

Badische Zeitung

Tagesspiegel

Mitschülerinnen der Mutter (Berlin 1931) – #3

Es ist schon pervers im Wortsinne von “verdreht”: Um mögliche jüdische Mitschülerinnen meiner Mutter und ihr Schicksal von 1933 bis 1945 zu ermitteln, mache ich mir die gleiche Brille zu eigen wie weiland die Nazis: Anhand der Namen auf diese ohnehin problematische Kategorie “Juden” (vergleiche die Diskussion zum Stichwort “Rasse”) zu schließen. Andererseits möchte ich in jedem Fall an die bedrohten oder vielleicht ermordeten Menschen von damals erinnern.

Nun, das sind Namen von Mitschülerinnen meiner Mutter, zu denen ich Informationen fand:
Lore Strauss, geboren 14.2.1924, diesem Namen zugeordnet fand ich auch den Namen “Lore Allard”, war Schülerin der Privaten Waldschule Kaliski. Von ihr stammt ein Brief an L. Kaliski aus London vom 16.11.1981. Wenn es die Lore Strauss aus der Schule meiner Mutter wäre, wäre sie der Shoah entkommen.
Hanna Markus: Die Yad Vashem-Datenbank verzeichnet eine “Hanchen Markus”, wohl auch Berlin, aber Jahrgang 1922. Befund unklar
Ruth Baer: zu einer Ruth Bähr, ebenfalls Jahrgang 1924, ebenfalls Wohnort Berlin, vermerkt die Yad Vashem-Datenbank “Während des Krieges war sie in Chelmno, Polen. Ruth wurde in der Schoah ermordet.” Zu einer weiteren Ruth Bähr vermerkt die gleiche Datenbank: “Ruth Bähr wurde 1924 geboren. Vor dem Zweiten Weltkrieg lebte sie in Berlin, Deutsches Reich. Während des Krieges war sie in Berlin, Deutsches Reich und wurde mit transport 4 von Berlin, Berlin (Berlin), Stadt Berlin, Deutsches Reich nach Lodz, Getto, Polen am 01/11/1941 deportiert. Ruth wurde in der Schoah ermordet.” Ob eine von den beiden mit dem Namen Ruth Bähr aufgeführten Frauen mit Ruth Baer identisch ist, kann nicht entschieden werden, ist aber möglich.

Die Zuordnung der Namen zu den Gesichtern auf den Fotos kann nicht eindeutig vorgenommen werden. Daher oben ein Gesamtbild der Klasse meiner Mutter von einem Schulfest.

Eine Namensliste der Photographierten, die offensichtlich aber viel später angeferfertigt wurde.

 

Siehe auch -- see also 
English -- Seppel (Joseph) Walter & Martha Esther Hirschberg
Deutsch -- Seppel (Joseph) Walter & Martha Esther Hirschberg

English -- Whereabouts of Lilli Cassel
Deutsch -- Hintergründe zu Lilli Cassel

English -- Class mates on an excursion / List of all class mates
Deutsch -- Klassenfoto vom Ausflug / Liste aus Fotoalbum

 

Grundschulfreunde der Mutter (Berlin 1931) – #2

  Kein Mensch käme auf die Idee, diese sorglosen Bilder mit dem wenige Zeit nachfolgenden, von Deutschen begangenen Völkermord in Verbindung zu bringen: Ein knappes Dutzend Mädchen hat offenbar Spaß auf einer Geburtstagsfeier im Mai 1931 in Berlin. Ich fand diese Bilder ebenfalls im Fotoalbum meiner Mutter, vermutlich aufgenommen von meiner Großmutter. Sie zeigen Lili Cassel (die 1. in der Reihe auf dem obersten Bild), meine Mutter ist dort die vorletzte. Glücklicher Weise konnte Lili Cassel gemeinsam mit ihrer Schwester Ewa zunächst nach England entkommen. Später emigrierte die ganze Familie in die USA.

Im Jahre 1952 heiratete Lili ihren Mann Erich Wronker. In ihrem Berufsleben wurde sie eine anerkannte Illustratorin (u.a. von Kinderbüchern) und professionelle Schriftgestalterin. Ohne besonders religiös aufgewachsen zu sein, zeichnete sie sich als Kalligraphin für in Hebräisch geschriebene Texte aus. Bei ihrem Tod im Januar 2019 erhielt sie sogar im der  NY Times einen Nachruf. Shalom, Lili

Ein Brief aus dem Jahre 1933 an das Kindermädchen findet sich hier.
Ein Londoner Tagebuch mit zahlreichen Illustrationen aus dem englischen Exil gibt es ebenfalls.

 

Siehe auch -- see also 
English -- Seppel (Joseph) Walter & Martha Esther Hirschberg
Deutsch -- Seppel (Joseph) Walter & Martha Esther Hirschberg

English -- Whereabouts of Lilli Cassel
Deutsch -- Hintergründe zu Lilli Cassel

English -- Class mates on an excursion / List of all class mates
Deutsch -- Klassenfoto vom Ausflug / Liste aus Fotoalbum

 

Grundschulfreunde der Mutter (Berlin 1931) – #1

Wolf Biermann hat einmal solche Konstellationen als besonders spannend und lehrreich beschrieben, in denen „Geschichtsbuch” und „Fotoalbum” zusammenträfen. Ein bisschen fühlte ich mich an diesen Satz erinnert, als ich ein Fotoalbum meiner Mutter vornahm. Ich hatte es mal für Kinder und Geschwister digitalisiert. Das Album enthielt für mich geradezu rührende Bilder aus der Grundschulzeit meiner Mutter 1931 in Berlin. Das Foto unten trug die Unterschrift „Mit Martha und Seppl Hirschberg Juli 1931”.

Es lag nicht fern, Befürchtungen zu hegen, was Menschen mit solchen Namen während der Nazi-Zeit geschehen sein könnte. Eine Recherche bei MyHeritage hat mich erst einmal beruhigt: Martha Esther Hirschberg ist 1979 und Walter Joseph Hirschberg 1998 verstorben. Sie haben also die Shoah überlebt. Walter Joseph Hirschberg ist offenbar nach San Diego ausgewandert. Vielleicht gelingt es mir noch, die Fotos Angehörigen der beiden zusammen zu lassen.

Weitere Informationen sind sehr willkommen.

 

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English -- Seppel (Joseph) Walter & Martha Esther Hirschberg
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English -- Class mates on an excursion / List of all class mates
Deutsch -- Klassenfoto vom Ausflug / Liste aus Fotoalbum

 

Überleben im Nazi-Reich. Wie jüdische Deutsche der Shoah entkamen

Das zurückliegende Gedenken an das Ende des Zweiten Weltkriegs und die Befreiung von der Nazi-Diktatur haben noch einmal den Blick auf den letztlich leider vergeblichen Widerstand gegen Hitler gelenkt. Zwei Bücher möchte ich zu diesem 75. Jahrestag zur Lektüre empfehlen, die teilweise von den gleichen Personen und Begebenheiten handeln.

Peter Schneider, «Und wenn wir nur eine Stunde gewinnen…». Wie ein jüdischer Musiker die Nazi-Jahre überlebte, (rororo 23256) Berlin 2001
Schneider hat es unternommen, Konrad Latte – Decknamen Konrad Bauer – zu befragen und aus den Ergebnissen und zusammengetragenen Dokumenten eine eindringliche Erzählung zu erzeugen. Wir erfahren, wie die ganze Familie Latte, Konrad, seine Schwester Gabi und die beiden Eltern, den Schritt in die Illegalität angesichts der drohenden Deportation in den Osten geht. Konrad gelingt es als einzigem der Familie, durch ein gehöriges Maß an Chuzpe, manche glückliche Fügung und die Bereitschaft von einer Reihe deutscher Frauen und Männer, die Shoah zu überleben. Nach dem Krieg kann er das, was ihm in der Illegalität als Kirchenmusiker ein winziges Einkommen ermöglichte, endlich zum normalen Beruf machen: Er wird Korrepetitor an der Oper in Düsseldorf und später Erster Kapellmeister an der Staatsoper Berlin. Die meisten Jahre gilt später sein Engagement dem von ihm gegründeten Berliner Barock-Orchester.

Dass Konrad Latte zwischendurch mit trickreich beschafften falschen Papieren sogar in der Truppenbetreuung der Wehrmacht auftritt, kann einem als Leser schon den Atem nehmen. (Im Rheinland heißt so ein Verhalten kackfrech und hat hier überhaupt nichts Despektierliches.) Als Latte kurz vor dem Zusammenbruch von einem Kollegen mit dem Namen Undeutsch öffentlich auf sein jüdisches Aussehen angesprochen wird, dreht der junge Mann den Spieß um. Er kann sich mit einem Witz über dessen Namen erfolgreich aus der Affäre ziehen.

Das Buch setzt Latte, aber auch den Deutschen, die ihn unter Lebensgefahr unterstützt haben, ein literarisches Denkmal. Beschämend aber, dass das Bezirksamt Zehlendorf noch 1951 meinte, ihm den Status als Verfolgter des Nazi-Regimes absprechen zu müssen, weil er „seiner Gesinnung [als Regimegegner] nicht treu geblieben“ sei. Hätte Konrad Latte nicht oft zu unkonventionellen Schritten und Schein-Identitäten gegriffen, hätte er nicht überlebt.

Das Buch würde ich mir als Schullektüre wünschen, vielleicht auch als Spielfilm. Das Zeug zu einem Thriller hätte es allemal. Die Eigenschaften, die die porträtierten Menschen im Buch zeigen, würden uns auch in diesen verunsicherten Tagen gut zu Gesicht stehen.

• Ruth Andreas-Friedrich, Der Schattenmann. Tagebuchaufzeichnungen 1938–1945, (st1267) Frankfurt 1986
Frauen standen – wie Ruth Andreas-Friedrichs Buch zeigt – dem Mut und der Handlungsbereitschaft ihrer männlichen Mitstreiter gegen Nazi-Deutschland in nichts nach. Ihr Buch umfasst die Zeit von 1938 bis zum Zusammenbruch und dokumentiert ihre Tagebuchaufzeichnungen. Anfangs notiert sie eher die Reaktionen ihrer Mitbürgerinnen und Mitbürger. Je mehr sich die Lage zuspitzt und die Brutalität gegenüber Juden und anderen Missliebigen zunimmt, um so mehr erhalten die Aktionen von ihr, ihrem Freund Leo Borchard und einem Netz von Gleichgesinnten den Akzent. Viele Dinge zur Unterstützung muten alltäglich an: Schlafplätze an immer wieder anderen Orten beschaffen, überlebenswichtige Lebensmittelkarten organisieren, Legitimationen beschaffen und fälschen, Kontakte zu anderen Unterstützern pflegen und nutzen. Dabei den Nachstellungen und der Denunziationsbereitschaft der Häscher und Mitläufer zu entgehen wie den Bombenangriffen, erfordern ständige Konzentration und Einsatzbereitschaft.

Über Konrad Latte, der von ihrer Gruppe Emil ebenfalls unterstützt wird, schreibt Andreas-Friedrich:
Von Tag zu Tag wird Konrad waghalsiger. Mit der Mitgliedskarte der Musikkammer ist er bis in die Staatsoper vorgedrungen. Rührende Geschichten erzählt er: ausgebombte Wohnung, verlorene Habe, verstorbene Eltern, zerrüttete Gesundheit. Alles stimmt irgendwie. (S.131 – 22. März 1944)

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